Wenn die Giraffe mit dem Wolf spricht

Alltagskonflikte in Familien mit Gewaltfreier Kommunikation respektvoll lösen. Ein Selbstversuch von Barbara Krennmayr.

Hätte ich doch nur einmal kurz innegehalten und durchgeschnauft. Meine elfjährige Tochter hat mich soeben zum vierten Mal in der letzten halben Stunde unterbrochen. Um mir zu zeigen, was sie auf ihrer Zeichnung ergänzt hat. Keine Chance, mich auf mein E-Mail zu konzentrieren. Es hat auch Nachteile, wenn der eigene Arbeitsplatz im Wohnhaus ist. „Wir haben doch vereinbart,…“, beginne ich meine Predigt. Schon während ich rede, weiß ich, dass nichts davon bei meiner Tochter ankommt und nur einen Effekt hat. Sie keift zurück. Der nächste Krach ist unausweichlich. Dazu der alltägliche Streit über Aufräumen, Lernen, im Haushalt helfen. Ich frage mich, ob die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg dabei helfen kann, solche Konflikte mit seinen Kindern respektvoll zu lösen. Freunde haben mir von diesem Konzept erzählt. Kurzentschlossen melde ich mich zu einem eineinhalbtägigen Seminar an.

Fünf Frauen und ein Mann sind bereits da, als ich den großen, hellen Raum betrete. Bis auf eine jüngere Frau sind alle in meinem Alter, um die 40. Andrea Scheuringer leitet das Seminar. Ihre Haare fallen ungewöhnlich weich und dicht in hellgrauen Locken über den Rücken der 43-jährigen. Lachfältchen umspielen ihre graublauen Augen. Sie wirkt fröhlich und warmherzig.

Scheuringer erklärt uns das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (GfK). Es klingt simpel und rezepthaft. Erstens: Wertfrei und ohne interpretieren beobachten. Zweitens: Eigene Gefühle wahrnehmen und ausdrücken. Drittens: Erkennen, welche Bedürfnisse hinter den Gefühlen stehen. Viertens: Eine Bitte aussprechen. Wer dies berücksichtigt, spricht in der Giraffensprache. Demgegenüber steht die Wolfssprache, die moralisch urteilt und dem Gesprächspartner zumindest unterschwellig Schuld zuweist. Die fordert, nicht bittet. Etwas irritierend finde ich die beiden Handpuppen Wolf und Giraffe, mit denen die graugelockte Seminarleiterin das Konzept erklärt. Zu viel wird es mir, als sie wechselweise zwei Haarreifen mit Wolfs- und Giraffenohren aus Plüsch aufsetzt. Sie will damit zeigen, dass es auch aufs Zuhören ankommt. Bei mir macht sich Verwirrung breit und das Gefühl, dass ich so nicht mit meiner Tochter sprechen kann. Die abstrakten Phrasen der GfK scheinen mir wenig alltagstauglich.

Am nächsten Morgen herrscht gute Stimmung in unserer Seminargruppe. Das liegt wohl auch an den abwechslungsreichen Übungen, in denen wir lernen, Gefühle und Bedürfnisse verständlich zu formulieren. Sie lassen mich wieder Hoffnung schöpfen.

Die Trainerin erzählt über den Amerikaner Marshall B. Rosenberg, Gründer der GfK. Der mittlerweile 78-jährige klinische Psychologe wurde durch die Bürgerrechtsbewegung und Rassenunruhen der frühen 1960er Jahre geprägt. Seither sucht er Wege, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Zertifizierte Trainer verbreiten sein Konzept der Gewaltfreien Kommunikation mittlerweile in mehr als 65 Ländern. Manche Kritiker werfen der GfK wegen der eigenen Rituale, Musik und Sprache sowie der großen Verehrung von Rosenberg religiösen Charakter vor. Grundsätzlich ist die Anerkennung jedoch groß, auch seriöse Unternehmensberater empfehlen sie.

Wir sind mittlerweile bei der abschließenden Übung angelangt. Jeder soll einen Konflikt im Rollenspiel lösen. Andrea Scheuringer legt dazu große Karten hintereinander auf den Boden: Beobachtung, Gefühle, Bedürfnisse, Bitte. Diese müssen wir nun Schritt für Schritt durchlaufen. Ich wähle den Konflikt mit meiner Tochter. Karina Berger[1], mit 30 die Jüngste in unserer Runde, spielt meine Tochter. Ich versuche, die Situation wertfrei zu beschreiben: Wir haben vereinbart, dass sie mich in Ruhe arbeiten lässt. Sie ist nun zum vierten Mal in einer halben Stunde gekommen, um mir die Fortschritte bei ihrer Zeichnung zu zeigen. Ich bin dadurch verärgert, frustriert und gereizt. Meine Bedürfnisse nach Konzentration und Ruhe, Respekt und Verständnis sind nicht erfüllt. Und ich möchte, dass sie mich noch eine halbe Stunde ungestört arbeiten lässt. Soweit ist alles klar. Ich stehe neben der Karte mit der Aufschrift „Bitte“. Mir gegenüber steht Karina Berger als meine Tochter. Irgendwie gelingt es mir, halbwegs vernünftige und verständliche Sätze zu formulieren. Denke ich. „Tochter“ Berger reagiert verständnislos. Nach einigem hin und her sagt sie: „Hast du mich denn nicht mehr lieb?“ Ich bin ausgebremst. Unsere graugelockte Trainerin bittet mich, zwei Schritte zurück zu gehen. Ich soll nun erneut meine Gefühle durchforsten: Ich bin verwirrt und hilflos. Genau das sage ich dann auch. Und erziele Wirkung! Ich habe sie endlich erreicht, „Tochter“ Berger. Wir können eine Vorgangsweise vereinbaren, die für uns beide passt.

Zwei Dinge habe ich letztlich gelernt: Möglichst klar und einfach sprechen. Mir in heiklen Situationen Zeit nehmen und gedanklich einen Schritt zurück machen, anstatt mich sofort zu verteidigen. Um die GfK zu erlernen, braucht es allerdings mehr. Vielleicht werde ich die örtliche Übungsgruppe oder ein weiteres Seminar besuchen. In Österreich organisieren mittlerweile 49 Trainerinnen und Trainer in allen Bundesländern GfK-Seminare und Übungsgruppen.

Ein paar Tage später sitze ich mit meiner Tochter beim Mittagessen. In dieser entspannten Atmosphäre erkläre ich ihr, warum mich ihre Unterbrechungen bei meiner Arbeit stören und bitte sie um ihre Rücksichtnahme. Sie hört mir aufmerksam zu. Seither sehe ich ihr Bemühen. Es gelingt ihr nicht immer. Dann aber lösen wir das Thema in einem ruhigen Gespräch. Meistens.



[1] Name geändert

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